Ulrike Damm
Die Wohlgestalt allein ist es nicht. Sie kann uns nicht genügen, denn so schnell wir sie erfassen, so schnell vergessen wir sie. Wohlgestalt: äußere Form. Niemals kann sie Schönheit für sich behaupten, denn das Ende fehlt. Die Natur des Lebens ist, dass nur das Ende die Geschichte macht, und nur der Weg eine Erzählung wert ist. Wenn es gut läuft, die Gedanken, nicht das Wort; das Fragen, nicht die Antworten; das Vorbeigehen, nicht das Warten. Blühen und verwelken, gedeihen und verderben: Schönheit hat eben doch etwas mit Wahrheit zu tun.
Die Bilder von Antje Hain zeigen uns, wie schwer es ist, wahre Schönheit auszuhalten. Erst auf den zweiten Blick sehen wir die Unanständigkeit hinter der Reinheit, die physische Überlastung der herrlichen Frauengestalt, die Anstrengung. Die Frau ist so schön, wie der unsichtbare Mann dahinter fordernd ist. Ungewollte Ausschweifung, die wir nicht sehen, aber Geste und Blick der Frau verraten: Es ist grauenhaft.
Diese Bilder sagen die Wahrheit. Weil man sie nicht wissen will, fühlt man sich ertappt, wenn man sie trotzdem ahnt. Man möchte das Leben lieber schön in Augenschein nehmen, der Schein soll Schein bleiben; lieber Wohlgestalt als das Gelebte. Aber hier muss man alles nehmen: die ganze hässlich wahre Schönheit mit ihrer Zerbrechlichkeit und Macht, ihrer Moral und Verderbtheit, ihrer Angst und Gewalt.
Antje Hain will das Ganze sehen, und mit ihrer einzigartigen Befähigung, die Natur des Schönen ins Bild zu fassen, zeigt sie uns, dass es – wenn man von Kunst spricht – immer um Leben und Tod geht.
ISBN 978-3-9815294-6-3 · www. dammundlindlar-verlag.de
Jochen Boberg
Im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurde für die Zeitmessung der schwerkraftunabhängige Federantrieb der Uhr erfunden, um 1500 die ebenso unabhängige Unruh. Damit wurde die Zeit „transportabel“, handhabbar in jeder Lage. Um 1510 gelang es dem Nürnberger Peter Heinlein, die Mechanik so zu verfeinern, dass er die erste Taschenuhr bauen konnte, einen Taktgeber, der die Welt veränderte. Termingeschäfte, Produktionsabläufe, das ganze Leben wurde immer mehr von einem neuen Zeitbewusstsein bestimmt. Ein revolutionärer Akt, heute eine Alltäglichkeit.
Am 7. Januar 1839 erfuhr die Akademie der Wissenschaften in Paris vom neuen Verfahren des vom Licht gewirkten Bildes, der Daguerreotypie. Damit wurde die Bilderwelt unserer Zivilisation – nach den Vorläufen der Camera obscura – grundlegend verändert. Ein vergleichbarer, vielleicht sogar noch wirkungsmächtigerer revolutionärer Akt in einer Welt, deren Herrschaft und Religion im geschaffenen Bild, in den Künsten ihren Ausdruck fanden. Heute ist es so, dass man an einem Tag in Venedig mehr Bilder „schießt“, als in früheren Zeiten in einem Jahrhundert geschaffen wurden.
Was meinen wir damit, wenn wir heute vom „Bild“ sprechen, jener ehemals bedeutenden zivilisatorischen Kraft? Und wo finden wir die Bilder, denen Schönheit und Wahrheit derart zukommen, dass sie uns zu einer uns betreffenden Wahrnehmung führen, also eine Ästhetik (im Wortsinn) für sich beanspruchen können? Die schnelle Antwort: in der Kunst. Aber auch da geraten wir mit Blick auf die explodierenden Märkte in Untiefen. Sichtbar ist so ziemlich alles in der Welt, und sei es mit Hilfe von Apparaten, aber wahrnehmbar noch lange nicht.
Ein kleiner Exkurs zum Bildbegriff bleibt uns also nicht erspart, wenn wir die Werke von Antje Hain in einer Welt des visuellen Analphabetismus zutreffend verorten wollen.
Gott – so steht es in der Bibel – schuf den Menschen nach seinem Bilde: ein unglaublicher Satz, der eigentlich allen von Menschen gemachten Bildern den Boden entzieht. Doch es gab für die Christenwelt einen klugen Ausweg, das „vere ikon“, jenes wahrhaftige Bild, das uns im Schweißtuch der Veronika und im Turiner Leichentuch gegeben wurde. Großartige Kunstwelten sind daraus entstanden.
In der Renaissance, der Zeit des Humanismus, gab es in meiner Sicht eine neue Phase des Vera ikons. Das selbstbewusste Individuum sah sich und alles um sich herum als Geschaffenes, das von der Kunst in seiner erfahrbaren Wirklichkeit zum Abbild werden sollte. Die heiligen Gestalten betraten den Boden der Welt, sogar unserer Heimat. Die Porträts wurden wahrhaftig, so beispielsweise das Bild Dürers seines Lehrers Wohlgemut, seiner Mutter. Die Kunst des Abbildens – gefördert durch die Erfindung der Ölmalerei – erreichte ungeahnte, auch kuriose Höhen. So galt als Sensation, wenn man sich vor einem Gemälde veranlasst sah, eine Fliege zu vertreiben und dann erst bemerkte, dass sie gemalt war.
Lassen wir es bei diesem groben Zugriff, zumal Sie schon ahnen können, was die dritte Stufe des Vera ikon sein wird: die fotografische Abbildung. Diese vom Licht geschaffenen Bilder konnten ja nur zeigen, was tatsächlich vor die Linse geriet, also eine wie auch immer geartete Wahrheit. Da aber auch bei der Fotografie die Bilder zunächst durch das Material hindurch müssen, damit also der Gestaltung, auch der Manipulation zugänglich waren, haben wir es von Anfang an mit einem Irrglauben zu tun, den sich manche zunutze machen wollten. Die Geschichte der Fotografie ist hinreichend bekannt. Die Techniken entwickelten sich rasant. Sie dient der Wissenschaft vom Mikro- bis zum Makrokosmos. Sie dokumentiert, beeinflusst Entscheidungen, und von Anfang an bot sie eine Fülle von Gestaltungsformen, die der Palette der Malerei in nichts nachstanden. Die Frage, ob Fotografie Kunst sein könne, stellt sich mithin nicht, und die Frage nach der Wahrheit des fotografischen Bildes wird – wie bei aller Kunst – über die ästhetischen Mittel beantwortet.
Zunächst und noch einmal: Der Weg zur Kunst führt durch das Material hindurch. Wer mit der Fotografie arbeitet, muss sein Handwerk beherrschen, so wie der Bildhauer den Stein, das Holz. Und dann: Das autonome, nur sich selbst meinende Kunstwerk ist sinnlos, ist eine Fiktion, oft einfach eine Notlüge, wenn die Idee fehlt. Auto-nomie, die „Selbstbenennung“, birgt in sich die Falle der Beliebigkeit.
Trotz allen Fortschritts, in einem ist der Mensch geradezu konservativ: Schönheit und Wahrheit müssen in ein Verhältnis geraten, sonst wollen wir das, was uns ins Auge gerät, nicht für wahr halten. Wir können es nicht wahrnehmen. Genau hier stellt sich die Frage nach der Qualität von Kunst.
Nun gibt es heute nicht mehr die allumfassende Wahrheit. Wir leben im Zeitalter der Subjektivität. Scheinbar gehen damit die Maßstäbe verloren; nein, sie werden nur differenzierter. Die Künstlerin als Subjekt – hier spätestens merkt man, dass die letzten drei Abschnitte auf Antje Hain zielen – steht dem betrachtenden Subjekt im Werk gegenüber. Zwischen ihnen muss sich jene wie auch immer geartete Wahrheit, vielleicht auch nur Glaubwürdigkeit einstellen, die zu einem ästhetischen Urteil führt: Das rückt mir auf den Leib, das will ich, das tritt mit mir in einen Dialog. Wenn das geschieht, hat man es mit Kunst zu tun.
Antje Hain ist in diesem Sinne Künstlerin. Sie schafft Bilder in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes.
Frauenbilder: zum einen die Venus, jene schöne, aber unberührbare Frau, in sich selbst versunken – so wie sie Tizian gemalt hat; dann ist da die Frau als missbrauchtes Objekt, auch der Gewalt ausgesetzt, wie sie uns in der Kunstgeschichte zum ersten Mal bei Goyas „Nackter Maja“ begegnet. Da konkurriert die Schönheit der Landschaft mit der Schönheit des Mädchens, doch die Szene ist mehrdeutig. Es liegt etwas dahinter, ein Bild hinter dem Bild, das fasziniert und beängstigt. Vogelscheuchen werden in Szene gesetzt. Schrecklich schöne Gestalten, die unser Verhältnis zur Natur infrage stellen, gleichzeitig menschliches Leid spiegeln. Und dann der „Lappen“, jenes Element aus der Welt der Bühne, das verdeckt und aufdeckt und das bei Antje Hain zum Gleichnis mit der Schöpfungsgeschichte wird; eine unglaublich glaubhafte Inszenierung, die dir Wege öffnet.
Da entstehen Strukturen, die an Max Ernst erinnern, andere, die zu C. D. Friedrichs führen, wieder andere, die Surrealisten aufrufen. Antje Hain zitiert da nicht, sie arbeitet auf diesem Niveau. Die Vielfalt ihrer Arbeiten divinatorisch zu interpretieren verbietet sich. So komplex sie auch sein mögen, sie sind mit den Augen erschließbar, wenn man nur Bauch, Herz und Kopf zusammenbringt, die Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit ihrer Kunst wahrnimmt. Eine Arbeit, die sich wirklich lohnt, ein Werk, das diese Arbeit verdient.